10.10.2016 Forderungen von Bürgerrechtsgruppen an die Koalitionsverhandler in Berlin

Acht Forderungen an die Beteiligten und Verantwortlichen der rot-rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Berlin

Aktion Freiheit statt Angst hat  sich an einem Offenen Brief an die Rot-rot-grünen KoalitionverhandlerInnen beteiligt. Der Brief wurde den 3 Verhandlungsgruppen heute morgen zugestellt.


Der Inhalt des Schreibens:

Im Rahmen der anstehenden Verhandlungen "Rot-Rot-Grün" für eine neue Regierungskoalition in Berlin fordern wir alle Beteiligten an den Gesprächen und in den Parteien dazu auf, sich dafür einzusetzen,

1) die polizeiliche Vorratsdatenspeicherung der personenbezogenen Daten von DemonstrationsanmelderInnen in der so genannten "Stadtweiten Veranstaltungsdatenbank" (VDB) sofort einzustellen und die bislang darin gespeicherten Daten unverzüglich und unwiderruflich zu löschen,

2) die Praxis der Funkzellenabfragen einzustellen oder zumindest in ihrem Umfang drastisch zu reduzieren und vor allem die Benachrichtigung aller davon auch nur temporär betroffenen KommunikationsteilnehmerInnen entsprechend § 101 Absatz 2 StPO umfänglich und unmittelbar zu gewährleisten, so wie von der derzeit noch amtierenden Regierung angekündigt und versprochen, jedoch nicht umgesetzt wurde,

3) die gesetzliche Befugnis zur anlasslosen Videoüberwachung von Versammlungen ("Gesetz über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen") zurückzuziehen und damit den Grundrechten auf Versammlungsfreiheit und der informationellen Selbstbestimmung wieder Geltung zu verschaffen sowie der bundesweiten Zersplitterung der Versammlungsgesetzgebung endlich Einhalt zu gebieten,

4) das zuletzt noch von Innensenator Henkel angeschobene Pilotprojekt zum Einsatz von umstrittenen Taser-Waffen bei der Polizei sofort abzubrechen, um nicht einen gefährlichen Präzedenzfall für den Einsatz dieser nur angeblichen ungefährlichen Waffe im Polizeialltag zu schaffen,

5) die umstrittene Gefahrengebiets-Politik der Vorgänger-Regierung endlich zu beenden und künftig keine besonderen Gefahrengebiete mit polizeilichen Sonderbefugnissen mehr auszuweisen, mindestens aber der Geheimhaltung der Anzahl, des Umfangs und der Begründung von Gefahrengebieten ein Ende zu bereiten und neben der Transparenz die Wirksamkeit, die Verhältnismäßigkeit und damit die Rechtmäßigkeit, also den Sinn dieser Maßnahme von unabhängiger Stelle evaluieren zu lassen, bevor anlasslose Kontrollen und Durchsuchungen von Menschen und Wohnungen weiter fortgeführt werden,

6) den Vorstoß, öffentlichen Raum in Berlin mittels Änderung des § 24a ASOG polizeilich dauerhaft videoüberwachen zu lassen solange zu verwehren, bis ein verhältnismäßiger Einsatz von Überwachungskameras zur Verhinderung von Straftaten von unabhängiger Seite wissenschaftlich bzw. sachlich belegt werden kann,

7) eine Beschwerdestelle für Bürgerinnen und Bürger und Polizei zur Annahme von Anregungen, Ideen, Beschwerden und Lob zum Verhalten von Polizei oder anderen Teilen des Innensenats oder seiner Behörden in Form einer/eines unabhängigen Polizeibeauftragten einzurichten,

8) den Einsatz von V-Leuten durch den Berliner Geheimdienst ("Verfassungsschutz") zu verbieten und den aktuell noch bestehenden Einsatz von staatlich bezahlten und geschützten Spitzeln schnellstmöglich zu beenden, die Behörde zu einer Institution ausschließlich offener Beobachtung und Sammlung öffentlich verfügbarer Informationen ohne weitere Befugnisse zurückzubauen, somit das Trennungsgebot ernst zu nehmen und mit Leben zu erfüllen. Außerdem fordern wir, zukünftig die Informations- und Bildungsarbeit an unseren Schulen mit sofortiger Wirkung ausschließlich den dafür geeigneten Stellen (z.B. Berliner Landeszentrale für politische Bildung oder zivilgesellschaftlichen Organisationen) zu überlassen. Mittelfristig ist die Abschaffung des Berliner Geheimdienstes anzustreben und entsprechende Schritte zur Auflösung des "Berliner Verfassungsschutzes" in der Abteilung II der Senatsverwaltung für Inneres und Sport sind einzuleiten.

Begründungen
    
    Zu 1) Die VDB greift nicht nur unverhältnismäßig in die informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen ein, sie gefährdet außerdem die grundrechtlich verbriefte Versammlungsfreiheit (Artikel 8 GG). Die dreijährige personenbezogene Datenspeicherung ist für eine potentielle Gefahrenprognose oder sonstige Zwecke (z.B. Lagebilder) nicht erforderlich und gehört abgeschafft. Für die Details zur VDB siehe https://netzpolitik.org/?s=veranstaltungsdatenbank

    Zu 2) Die Benachrichtigung der Betroffenen ist eine elementare Voraussetzung für die nachträgliche Beschreitung des Rechtsweges. Durch die Auslegung der Vorschriften der StPO durch die Berliner Staatsanwaltschaften unterbleibt diese jedoch fast immer, siehe z.B. https://netzpolitik.org/2015/funkzellenabfrage-ob-betroffene-benachrichtigt-werden-wollen-entscheidet-die-staatsanwaltschaft-nicht-betroffene/

    Zu 3) Die Zersplitterung des Versammlungsrechts nach der Föderalismusreform gefährdet die Versammlungsfreiheit und stellt ortsfremde Veranstalter von Demonstrationen vor große Probleme. Die anlasslose Videoüberwachung schreckt potentielle TeilnehmerInnen ab, siehe z.B. http://www.humanistische-union.de/nc/presse/2012/pressedetail_2012/back/presse-2012/article/berliner-forum-fuer-versammlungsfreiheit-gegruendet/

    Zu 4) Mit dem Berliner Pilotprojekt zum Einsatz von Taser-Waffen durch allgemeine Polizeikräfte droht ein bundesweiter Dammbruch zum breiten Einsatz dieser Waffe. Dabei wurde die Bezeichnung der Taserwaffen nicht ohne Grund von "nicht-lethal" (NLW) auf "wenig-lethal" (LLW) geändert: Schon vor 8 Jahren meldete amnesty international, dass in den USA zwischen 2001 und 2008 alleine 334 Menschen im Zusammenhang mit dem Einsatz solcher Elektroschock-Waffen zu Tode gekommen sind: https://www.amnesty.de/presse/2008/12/16/usa-334-todesfaelle-beim-einsatz-von-tasern  Ähnliche Berichte/Erfahrungen gibt es aus anderen Ländern.

    Zu 5) Der Umgang der Berliner Polizei mit so genannten "kriminalitätsbelasteten" Gebieten, allgemein als "Gefahrengebiet" bezeichnet, steht schon seit einiger Zeit unter heftiger, öffentlicher Kritik. Die polizeieigene Rechtfertigung mit Bezug auf § 21 Absatz 2 Satz 1 ASOG erlaubt anlasslose Identitätsfeststellungen, die den betroffenen Bewohnern, aber auch Besuchern und anderen unschuldigen Personen einen großen Druck auferlegt. Es hängt der Verdacht des "racial profiling" in der Luft. Die von der Polizei selber festgelegte Definition zur Begründung eines Gefahrengebietes (siehe https://wiki.freiheitsfoo.de/pmwiki.php?n=Main.Gefahrengebiete#toc11 ) ist derart schwammig, dass beinahe jeder Bezirk Berlins darunter fallen könnte. Die Intransparenz bzgl. Anzahl und Ausdehnung der Gefahrengebiete ist einer Demokratie mit einer offen agierenden Polizei unwürdig, mit den Begründungen zur Durchführung von Hausdurchsuchungen in der Rigaer Straße im Januar 2016 hat sich die Behörde der allgemeinen Lächerlichkeit preisgegeben.

    Zu 6) Seitens vieler Experten wird klar angezeigt, dass eine stationäre, polizeiliche Videoüberwachung des öffentlichen Raums keine oder zumindest keine verhältnismäßige präventive Wirkung im Sinne der Verhinderung von Straftaten besitzt (siehe z.B. https://wiki.freiheitsfoo.de/pmwiki.php?n=Main.KFN-zu-Videoueberwachung ). Sofern es um die Verbesserung des "subjektiven Sicherheitsempfindens" der Menschen geht, kann und darf diese keine Begründung für den mit der Videoüberwachung verbundenen Eingriff in die Grundrechte der Menschen im öffentlichen Raum der überwachten Plätze darstellen.


    Zu 7) Eine derartige Beschwerdestelle, wie in vielen anderen Bundesländern und auch international üblich und bewährt, ist für Berlin längst überfällig und kann als neutrale Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger fungieren, die sich über Belange der Verwaltung, insbesondere der Polizei beschweren möchten, oder auch lobende Anmerkungen abgeben können. Wichtig sind dabei die gesetzlichen Festschreibungen von Befugnissen und Regelungen zur Berechtigung der Einleitung und Fortführung von disziplinar- oder strafrechtlichen Verfahren und eigenen Untersuchungen, wie sie z.B. in den §§ 5 und 6 eines dem Senat im Mai 2016 vorgelegten Entwurfes (siehe http://www.parlament-berlin.de/ados/17/IIIPlen/vorgang/d17-2966.pdf ) beschrieben worden sind.

    Zu 8) Nicht nur die jüngere Vergangenheit (NSU- und NSA-Skandale) beweist, dass sich die Praxis geheimdienstlich agierender staatlicher Stellen nicht mit den Absichten und Idealen einer demokratisch strukturierten Gesellschaft vereinbaren lassen. Ausweg aus dem desaströsen Agieren der Geheimdienste inklusive der mittelbaren oder sogar unmittelbaren Unterstützung gewaltbereiter oder -verherrlichender Personen und Gruppen sowie der Vertuschung und Deckung von Straftaten kann nur die mittelfristige Auflösung geheimdienstlicher Strukturen sein. Insofern kann die Abschaffung des Berliner Geheimdienstes nicht ausreichen - das Engagement der Berliner Landesregierung auf Bundesebene für weitere Schritte in diese Richtung gehört ebenso dazu. Zu den bürgerrechtlichen und pädagogischen Argumenten und Alternativen in Hinsicht auf den Besuch des Verfassungschutzes an Schulen siehe z.B. http://www.verfassung-schuetzen.de/schule-ohne-geheimdienst/

Unterzeichnende Gruppen (in alphabetischer Reihenfolge)

Aktion Freiheit statt Angst - https://www.aktion-freiheitstattangst.org
dieDatenschützer Rhein-Main - https://ddrm.de/
digitalcourage - https://digitalcourage.de/
freiheitsfoo - https://freiheitsfoo.de/
Humanistische Union, Landesverband Berlin-Brandenburg - http://berlin.humanistische-union.de/
Republikanischer Anwältin- und Anwälteverein (RAV) - http://www.rav.de/

Berlin, den 10. Oktober 2016


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Erstellt: 2016-10-10 17:50:50
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